Ich habe kaum geschlafen. Dies ist in der Nacht vor dem Gipfelsturm normal. Andere haben auch nicht viel geschlafen. Wir standen um zwei Uhr morgens auf und verbrachten eine Stunde damit, den Schnee zu kochen. Eine Gruppe war bereits am Aufsteigen: Die Lichter ihrer Stirnlampen krochen langsam den dunklen Hang entlang. Alle anderen planten, viel später aufzubrechen, irgendwann um 5 Uhr morgens. Es stellte sich heraus, dass sie Recht hatten: Der Wind lässt hier morgens nach.
Die Straße war recht einfach, aber es war unglaublich kalt. Besonders Pech hatten Chris und ich mit unseren neuen Handschuhen: Bereits auf den ersten Metern des Aufstiegs fingen unsere Finger schnell an zu frieren. Nach einer Weile habe ich sie überhaupt nicht mehr gespürt. Ich beschwerte mich bei Chris (schließlich hat er diese Handschuhe ausgesucht): Er riet mir, den oberen Teil abzunehmen und nur den wärmeren unteren zu tragen, und meine Hand im Faust halten. Das half ein wenig, aber das Gehen mit Trekkingstöcken und mit der Faust war unbequem: Ständig rutschte der Handschuh heraus. Oft musste ich auf die Stöcke verzichten, um meine Hände warm zu halten. Meine Füße waren auch kalt, aber ich habe mich von Expeditionen zum Kilimandscharo und Elbrus daran gewöhnt. Das Hauptproblem waren meine Finger.
Mir ist aufgefallen, dass Chris heute irgendwie komisch ist. In der Nähe der Hütte Independencia wurde Chris krank: Er zitterte am ganzen Körper und konnte die Steigeisen nicht alleine anlegen. Ich versuchte ihn aufzuwärmen, indem ich ihn umarmte und ihm etwas Tee einschenkte. Ich bat alle, sich schneller zu bewegen, damit Chris nicht vor Kälte komplett erfriert.
Beim Passieren der Querung blies uns ein starker eisiger Wind direkt entgegen. Wir gingen langsam voran. Wegen dem starken Wind taten nicht nur meine Finger und Zehen weh, sondern auch meine Augen. Obwohl es noch dunkel war, ich setzte meine Skibrille auf – es half. Als wir uns La Canaleta näherten, bemerkte ich, dass Chris kaum laufen konnte. Ich bat ihn, auf einem Felsen eine Pause einzulegen und Tee zu trinken. Mit eiskalten Händen holte ich meine Thermoskanne aus dem Rucksack, reichte sie Chris und wartete darauf, dass er sie öffnet und trinkt. Stattdessen saß er nur hilflos da und konnte nicht einmal eine Minute eine Thermoskanne halten: Sie rutschte aus und flog weit nach unten.
In diesem Moment wurde mir klar, dass Chris dringend zurück und runter musste. So in solchem Stand habe ich ihn noch nie gesehen. Ich ging mit ihm zur Independencia-Hütte und dachte, er könnte vielleicht alleine weiter runtergehen und ich könnte meinen Aufstieg alleine fortsetzen, aber selbst dort fühlte er sich immer noch unwohl. Nur muss ich doch mit ihm ins Lager Cholera gehen. In diesem Moment hatte ich den Gipfel vergessen. Chris in Sicherheit zu bringen war die einzige Priorität. Als wir jedoch im Lager ankamen, war ich sehr traurig: Ich musste so lange warten, so viele Qualen und Schwierigkeiten durchmachen, um die einzig mögliche Chance des Aufstiegs zu verpassen? Ich fing an, über parallele Pläne nachzudenken: Kann ich jetzt noch schaffen? Oder vielleicht morgen? Oder vielleicht doch nächstes Jahr wieder?
Jetzt gleich hochzugehen war keine gute Option – wir kamen gegen Mittag im Cholera-Camp an. Ich zögerte mit dem nächsten Tag, entschied mich aber schließlich, mit den anderen zum Basislager. Jedenfalls sollte das Wetter morgen schlechter werden.
Berge sind schön, aber Familie ist das Wichtigste. Ich werde noch einmal die Chance haben, ganz nach oben zu kommen, aber vorerst bin ich mit meinem persönlichen Höhenrekord zufrieden – 6660 Meter über dem Meeresspiegel.
Der Weg hinunter ins Lager war mühsam: Meine linke Brustseite begann zu schmerzen, besonders wenn ich hustete (ja, dieser Husten störte mich immer noch), ich fiel ständig, rutschte im Schnee aus und überhaupt waren meine Energie und Stimmung auf Null. Wie froh war ich, als wir endlich das Basislager erreichten! Der Arzt sagte, dass meine Lungen in Ordnung sind. Höchstwahrscheinlich schmerzte das Zwerchfell aufgrund von fast einem Monat ununterbrochenem Husten.
Am nächsten Tag stiegen die anderen beiden aus dem Team ab. Es gelang ihnen, den Gipfel zu erreichen. Ich bin sehr stolz auf sie, dass sie bis zum Schluss gekämpft haben, auf die letzte Wetterchance gewartet und sie genutzt haben. Nachdem wir das Ende der Expedition feierten, die gesamte Ausrüstung, Zelte und Verpflegung sortierten, alles auf Mauleseln hinunterschickten, alle Ausgaben bezahlten und in der Hütte der Parkwächter auscheckten, machten wir uns auf den Weg zurück zur Mendoza-Schlucht.
Ich kann es kaum erwarten, bis wir endlich wieder in Mendoza sind. Ich kann normal duschen, meine Wäsche waschen, in einem bequemen Bett schlafen, in eine normale Toilette scheißen und endlich meinen Husten, meine Finger und Zehen heilen (sie haben ihre Sensibilität verloren, besonders die Fingerspitzen). Wie schnell vergessen wir, diesen grundlegenden täglichen Komfort zu schätzen!
Es war nur noch ein langer Wandertag durch das endlose Tal zum Lager Confluencia und durch die Schlucht zur Grenze des Naturparks. Im Confluencia Camp erwartete uns eine Überraschung: ein leckeres Mittagessen. Unten, am Panoramaplatz mit Blick auf den Aconcagua, machten wir unser gemeinsames Abschiedsfoto.
Chris brauchte dort mehr Zeit: Mehrere Minuten lang stand er allein da und starrte den Berg Aconcagua an, ohne jede Bewegung und mit voller Konzentration. Hierher wird er nicht mehr zurückkehren. Vielleicht wird er sogar nie solche hohe Berge besteigen, wie er mir in den vergangenen Tagen gesagt hat. Das hat mich viel mehr traurig gemacht als die Tatsache, dass wir es nicht ganz nach oben geschafft haben. Immerhin habe ich so viel von dem Tag geträumt, an dem ich ihm auf einem hohen Gipfel einen Heiratsantrag machen würde. Entweder muss ich nach einer anderen Idee suchen, oder er wird seine Meinung doch irgendwann ändern 😉
In der Mendoza-Schlucht holten wir unsere Ausrüstung zurück, verabschiedeten uns von den Jungs, fuhren dann zunächst zu einer nahe gelegenen Berghütte und am nächsten Tag mit dem Bus in die Stadt Mendoza. Eine ganze Schulklasse hat dort im Bus Mafia gespielt. Es erinnerte mich an meine glückliche Kindheit. Wie überraschend, dass Mendoza so weit von Bischkek entfernt ist, aber im Geiste sehr nah: offene und freundliche Menschen, wunderbare Küche mit viel Fleisch, ähnlich aussehende Städte, Berge und Schluchten. Ich fühlte mich hier zu Hause. Schade, dass wir in drei Tagen abreisen mussten. Ich wollte hier länger bleiben und es noch ein bisschen mehr genießen. Vor allem, als wir an unserem letzten Tag in Mendoza von der Gastgeberin in unserem letzten Gästehaus begleitet und umarmt wurden. Mir wurde so warm ums Herz.
P.S. Mein Wunsch ging schließlich in Erfüllung. Unser Flug wurde storniert und wir mussten einen Tag später fliegen. Den letzten Tag verbrachten wir in der Sauna und am Pool, um uns vor dem langen Rückflug nach Berlin auszuruhen.